Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbands "Deutschland droht am unteren Rand auseinanderzubrechen"

Von Anna Reimann

29.06.2022, 16.10 Uhr

Die Armut im Land ist laut Paritätischem Gesamtverband in den vergangenen beiden Jahren so rasant gestiegen wie seit der Wiedervereinigung nicht. Und die Lage könnte sich im Herbst noch verschlimmern. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands
Foto: Jörg Carstensen / dpa

Wie geht es den Deutschen in Zeiten von Krieg und Inflation? Wie resilient (belastbar: stabil und widerstandsfähig) ist das Land?

Wirtschaftsminister Robert Habeck klang jüngst im SPIEGEL-Gespräch optimistisch - und voller Bewunderung. Die Menschen in Deutschland trügen die hohen Preise und die Inflation mit "großer Geschlossenheit". Das sei eine "starke Antwort" auf Wladimir Putins Plan, eine Spaltung der Gesellschaft zu erreichen, sagte Habeck. "Putin will, dass sich unser Land zerlegt. Aber wir zerlegen uns nicht."

Wer aber an diesem Mittwoch Ulrich Schneider, dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, zuhörte, bekam ein völlig anderes Bild gezeichnet. "Deutschland droht am unteren Rand schlicht auseinanderzubrechen", sagte Schneider bei der Vorstellung des Armutsberichts für das Jahr 2021.

Rekord bei der Armutsquote

Der Chef des Spitzenverbands der Freien Wohlfahrtspflege hatte gleich mehrere negative Rekorde zu verkünden:

Warteschlange vor Berliner Tafel: Alters- und Kinderarmut sind stark gestiegen
Foto: Christophe Gateau / dpa

Die Armut ist in Deutschland regional höchst unterschiedlich verteilt. In Bayern, Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein, aber auch in Brandenburg gibt es weniger Arme als im Bundesdurchschnitt. Deutlich ärmer als der Durchschnitt sind hingegen die Menschen in Nordrhein-Westfalen, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin und Bremen. Als "armutspolitische Problemregion Nummer eins" bezeichnete der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes das Ruhrgebiet. Mehr als jeder Fünfte der 5,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner lebe dort in Armut, sagte Schneider.

"Die Armut vertieft sich. Die, die vorher schon nicht wussten, wie sie über den Monat kommen, wissen jetzt zur Mitte des Monats nicht mehr, wie sie das Ende des Monats finanziell erreichen sollen", beschreibt Schneider die aktuelle Situation.

Der SUV bleibt nicht in der Garage

Der Verbandschef beleuchtete aber auch die andere Seite: Viele Menschen hätten so viel Geld, dass sie reichlich davon zurücklegen könnten: Sieben Billionen Euro hätten Privathaushalte in Deutschland auf Sparkonten. "Es gibt Haushalte mit sehr gutem Einkommen, die im Alltag von der Preissteigerung überhaupt nicht berührt werden", sagte Schneider. "Sie werden auch bei steigenden Spritpreisen ihren SUV nicht in der Garage lassen und werden auch weiterhin an der Wurst- oder Gemüsetheke einkaufen, ohne auf die Preisschilder zu schauen." Der Graben, der sich durchs Land ziehe, werde immer tiefer.

Die Vorsitzenden der Ampelparteien, Lars Klingbeil (SPD), Christian Lindner (FDP), Ricarda Lang (Grüne) bei der Verkündung des Entlastungspakets
Foto: Bernd von Jutrczenka / dpa

Wie aber könnte die Politik gegensteuern? Zumindest nicht so, wie es die Ampelkoalition derzeit versuche, findet Schneider. Er erinnert daran, dass nur zwei der 29 Milliarden Euro, die das Entlastungspaket der Bundesregierung koste, an einkommensschwache Haushalte gingen. Und er beklagt einen grundsätzlichen Geburtsfehler des Koalitionsvertrags: "Wer sagt, dass er auf keinen Fall die Steuern erhöhen wird, wird die Armut nicht bekämpfen."

Höhere Grundsicherung gefordert

Nach Ansicht Schneiders ist dringend ein neues Entlastungspaket nötig. Drei konkrete Maßnahmen fordert der Paritätische von der Bundesregierung:

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Wo die Lage schon 2021 düster war, werde sie ab Herbst, wenn Energie-Nachzahlungen kämen, noch schwieriger, prophezeite Schneider. Die Entwicklung treffe zunehmend auch die Mittelschicht, am unteren Rand der Gesellschaft aber werde dann "schlichte Verzweiflung ausbrechen".


Quelle: spiegel.de